* 9 *
Lucy Gringe, patschnass und schmutzig, taumelte kreischend und um sich tretend durch die Tür. »Lass mich los, du dusselige Kuh!«, schrie sie, holte mit dem Fuß aus und versetzte Linda einen kräftigen Tritt gegen das Schienbein. Der Rest des Zirkels, die Hexenmutter eingeschlossen, hielt den Atem an. Keine von ihnen hätte es gewagt, Linda so etwas anzutun.
Linda blieb wie vom Blitz getroffen stehen, und tödliche Stille legte sich über den Raum. Plötzlich riss Linda mit einem brutalen Ruck Lucys Kopf nach hinten und drehte die Zöpfe zu einem festen Knoten zusammen, sodass sie heftig an der Kopfhaut zerrten. Lucy schrie auf, obwohl Wolfsjunge ihr ansah, dass sie eigentlich nicht schreien wollte. Linda kniff die Augen zusammen, und zwei blaue Lichtblitze schössen durch die Dunkelheit und tanzten auf Lucys blassem Gesicht.
»Das müsstest du mir büßen, wenn du nicht schon für den du-weißt-schon-wen bestimmt wärst, du kleines Aas«, fauchte die Hexe und riss noch einmal kräftig an Lucys Zöpfen. Lucy fuhr herum und schlug, zu Wolfsjunges Bewunderung, mit der Faust nach ihr. Diesmal wich Linda geschickt aus.
Wolfsjunge konnte es nicht fassen. Lucy Gringe hier – Simons Freundin! Kein Wunder, dass Simon sie nicht finden konnte. Er wurde etwas ruhiger. Simons Freundin hin oder her, zumindest hatte er jetzt eine Verbündete, einen anderen Menschen. Der Zirkel hatte etwas Nicht-Menschliches. Er konnte es spüren: eine kalte Abgelöstheit, eine Ergebenheit an etwas anderes. Genauso mussten sich Menschen fühlen, die im Wald von Wolverinen umzingelt wurden – vollkommen allein. Aber nun war er nicht mehr allein ... ein anderer Mensch war mit im Raum.
Linda zerrte Lucy, durch die Müllhaufen stapfend, quer durch die Küche. Vor Wolfsjunge blieb sie stehen und drückte ihm Lucys Zöpfe in die Hand, als übergebe sie ihm Zügel. Wolfsjunge nahm sie widerstrebend und warf Lucy einen entschuldigenden Blick zu. Lucy fing den Blick auf, funkelte die umstehenden Hexen an und warf trotzig den Kopf zurück. Sie erinnerte Wolfsjunge an ein unberechenbares Pony.
Er fragte sich, warum die Hexe ihm Lucys Zöpfe zum Halten gegeben hatte – was hatten sie vor? Wie zur Antwort auf seine Frage kam die Hexenmutter auf ihren Dornenschuhen auf ihn zugewankt und blieb so dicht vor ihm stehen, dass er ihren Katzenatem riechen und die roten Flecken in den Rissen ihrer Schminke sehen konnte.
Mit einem schmutzigen Finger, an dem ein loser schwarzer Fingernagel hing, deutete sie auf Lucy. »Verfüttere das da an den Grim«, zischte sie. Dann wirbelte sie auf ihren spitzen Absätzen herum und wackelte zur Leiter zurück.
Wolfsjunge war entsetzt. »Nein!«, schrie er, wobei seine Stimme eine Oktave höher sprang.
Die Hexenmutter blieb stehen und drehte sich zu ihm um. »Was hast du gesagt?«, fragte sie eisig. Die anderen Hexen traten unruhig von einem Fuß auf den anderen. Wenn die Hexenmutter in diesem Ton sprach, drohte Ungemach. Aber Wolfsjunge ließ sich nicht einschüchtern. Er erinnerte sich genau an Tante Zeldas Worte: Alles Menschliche darfst du zurückweisen.
»Nein«, wiederholte er bestimmt.
»Hexenmutter«, rief Linda, »lass mich das kleine Miststück an den Grim verfüttern.«
Die Hexenmutter blickte stolz auf Linda. Sie hatte eine würdige Nachfolgerin auserkoren. »Also gut«, sagte sie.
Lindas Gesicht verzog sich zu diesem grausigen Grinsen, das die Hexenmutter so sehr liebte.
Wolfsjunge bemerkte, dass Lucy die Muskeln anspannte wie eine Wolverine, die zum Sprung ansetzte. Sie suchte mit den Augen einen Fluchtweg, aber das hatte er bereits getan. Es gab keinen – nur den Weg in den Keller. Zwei Hexen hatten sich an der Küchentür postiert, und Dorinda lauerte am Fuß der Leiter. Es gab kein Entrinnen.
Vor Wolfsjunge und Lucy lag ein stinkender Abfallhaufen, den Linda nun abzutragen begann. Wolfsjunge zog sanft an Lucys Zöpfen, und sie wichen den umherfliegenden Rübenstücken und Kaninchenteilen aus. Kein Teil der Küche blieb von dem Müllregen verschont, und nach kurzer Zeit war von dem Haufen nur noch eine zusammengepresste schwarze Kruste aus alten Gemüseschalen und Knochen übrig.
Zufrieden betrachtete Linda ihr Werk. Dann drehte sie sich zu Lucy um und deutete auf die eklige Pampe. »Kratz das ab, du Krötengesicht«, zischte sie.
Lucy rührte sich nicht von der Stelle. Dorinda – die vor Linda Angst hatte und immer versuchte, behilflich zu sein – nahm einen Spaten von einem Werkzeughaufen in der Ecke und reichte ihn Lucy. Linda funkelte Dorinda zornig an: dass Lucy die Schweinerei damit beseitigte, hatte nicht in ihrer Absicht gelegen. Lucy ergriff den Spaten, aber Linda war nicht auf den Kopf gefallen. Sie hatte sehr wohl bemerkt, wie Lucy nach ihr schielte. »Ich mach das«, blaffte sie und entriss Lucy den Spaten.
Lindas wütendes Schaufeln förderte eine zerquetschte tote Katze, ein Rattennest mit drei Jungen – das sie mit dem Spaten plattmachte – und schließlich eine schwere Falltür aus rostigem Eisen zutage.
»Oooh«, trillerte Dorinda nervös.
Stille trat ein, und alle starrten auf die Falltür. Niemand, nicht einmal die Hexenmutter, wusste, was sich darunter verbarg. Natürlich hatten sie alle Geschichten gehört, und wenn an diesen Geschichten nur ein Fünkchen Wahrheit dran war, dann hauste da unten mit Sicherheit kein sanftes Kuscheltier. Plötzlich hob Linda mit einer dramatischen Geste – denn Linda hatte einen Hang zum Dramatischen – die Arme und stimmte einen hohen, klagenden Gesang an: »Mirg ... Mirg ... Mirg ... chaw fua. Mirg ... Mirg ... Mirg ... chaw fuaaaaaaaaa!«
Wolfsjunge hatte in seiner Zeit bei Tante Zelda genug gelernt, um zu wissen, dass dies ein Umkehrzauberspruch war. Und selbst wenn er es nicht gewusst hätte, so hätte ihm die seltsame, katzenhafte Art, wie Linda die Worte jaulte, das Blut in den Adern gefrieren lassen. Die vor ihm stehende Lucy erzitterte. Sie drehte sich nach ihm um, und das Weiße in ihren Augen schimmerte. Zum ersten Mal sah sie ängstlich aus.
Das Gejaule verstummte, erneut kehrte Stille ein, und ein Gefühl banger Erwartung erfüllte den Raum. Plötzlich bebte der Fußboden, und Wolfsjunge spürte, dass sich darunter etwas bewegte. Es war kein angenehmes Gefühl, denn er wusste, wie morsch die Dielen und Balken im Hexenhaus waren. Dorindas Lippen entschlüpfte ein leises Wimmern.
Lindas Augen leuchteten vor Erregung. Sie nahm den Spaten, stach damit in die Fuge zwischen Dielen und Falltür und schleuderte eine mumifizierte Schlange heraus, die sich dort eingerollt hatte. Die Schlange flog durch die Luft und gesellte sich zu dem Hühnerkopf auf Dorindas Handtuchturban. Dorinda erstarrte und wagte nicht, sich zu bewegen. Nun, da die Schlange aus dem Weg war, kam Linda mit dem Spaten unter den Rand der Falltürklappe. Sie gab ihr einen kräftigen Stoß, und die Klappe begann, sich zu heben.
Wolfsjunge merkte, dass er die Luft angehalten hatte. Er atmete aus, und als er wieder einatmete, stieg ihm der Geruch von altem Fisch und schmutzigem Wasser in die Nase. Während die Klappe sich langsam hob, drang ein Gurgeln und Plätschern an sein Ohr, und er begriff, dass da unten Wasser war – tiefes Wasser, den Geräuschen nach zu urteilen.
Das bedächtige Sich-Öffnen der Falltür schlug alle Anwesenden in seinen Bann, auch die Katzen, die vorübergehend sogar das Fauchen einstellten. Die Klappe durchlief einen Bogen von 180 Grad, kam lautlos auf dem Fußboden zu liegen und gab den Blick auf ein großes quadratisches Loch frei, auf dem ein Eisengitter lag. Linda kniete nieder, hob das Gitter hoch und schleuderte es zur Seite. Sie spähte in die Tiefe. Drei Meter unter ihr schwappte Wasser, dessen ölige Oberfläche in dem trüben Licht gerade noch zu erkennen war. Alles wirkte erstaunlich ruhig. Ärgerlich beugte sich Linda vor – wo steckte der Grim?
Wie zur Antwort teilte sich plötzlich die Wasseroberfläche, und mit einem lauten Zischen schnellte ein langer schwarzer Fangarm in die Luft und landete klatschend auf dem Küchenfußboden. Dorinda kreischte. Wolfsjunge taumelte zurück – der Tentakel roch stark nach schwarzer Magie. Lachend schmetterte Linda ihren Spaten auf den Fangarm. Wolfsjunge zuckte zusammen – schwarze Magie hin oder her, dass musste wehgetan haben. Der Tentakel glitt durch die Falltür zurück und fiel klatschend ins Wasser. Das Wasser schlug Wellen, kräuselte sich ein paar Sekunden lang, Luftblasen stiegen auf, und ein paar rote Blutkringel trieben träge an der öligen Oberfläche.
Linda blickte zu Lucy und grinste triumphierend. »Das war der Grim, Karnickelgesicht. Bald taucht er wieder auf. Und wenn er wieder auftaucht, darfst du ihm Guten Tag sagen. Und wenn du nett bist, ist er vielleicht so gütig und ertränkt dich, bevor er dich in Stücke reißt. Oder auch nicht. Ha-ha.«
Lucy warf Linda einen wütenden Blick zu. Das kam bei der Hexe nicht gut an. Linda hatte es gern, wenn ihre Opfer vor Angst zitterten, schrien und um Gnade bettelten. Am liebsten alles auf einmal, allerdings würde auch eines davon genügen. Nur leider tat ihr Lucy den Gefallen nicht, und das machte sie fuchsteufelswild. Wütend packte sie Lucy am Arm und grub ihr die Fingernägel ins Fleisch. Lucy zuckte nicht mit der Wimper.
Wolfsjunge war wieder zum Wolf geworden und überlegte rasch. Wenn Lucy weiter so bockte, wurde sie noch in die Falltür gestoßen. Er musste etwas unternehmen. Und er wusste auch, was. Das Dumme war nur, dass das, was er vorhatte, bei Lucy nicht besonders gut ankommen würde – da war er sich ziemlich sicher. Aber er hatte keine andere Wahl. Er holte tief Luft und sagte noch einmal: »Ich bin gekommen, den Grim zu füttern. Was wollt ihr mir geben?«
Linda blickte erbost – was führte der Junge im Schilde? Aber sie kannte die Regeln des Zirkels und wollte sie nicht verletzen, zumal sie den Zirkel bereits als den ihren betrachtete. »Darf ich antworten, Hexenmutter?«, fragte sie.
Die Hexenmutter fand die ganze Sache mit dem Grim ziemlich ermüdend. Ihr Gedächtnis funktionierte nicht mehr so gut. Sie wurde älter und mochte solche Unterbrechungen des Alltags nicht. Und am wenigstens mochte sie Tentakel.
»Nur zu«, antwortete sie in einem Ton, der ihre Erleichterung nicht verbergen konnte.
Linda zeigte Wolfsjunge die Zähne wie ein Hund, der weiß, dass er einen Kampf gewonnen hat, sich aber trotzdem nicht zurückziehen will. »Wir geben dir das«, antwortete sie und gab Lucy einen kräftigen Stoß mit dem Spaten. »Was sagst du dazu?«
Wolfsjunge holte ganz tief Luft. »Ja«, sagte er.
Lucy fuhr herum und blitzte ihn an.
»Oooh«, trillerte Dorinda, von Bewunderung für Wolfsjunge überwältigt. »Oooh!«
Linda wirkte irgendwie enttäuscht. Sie hatte sich vorgenommen, Lucy sofort in das Loch zu stoßen, wenn der Junge ablehnte – womit sie fest gerechnet hatte –, und sie hatte sich darauf gefreut. Ja, sie hatte sogar beabsichtigt, den Jungen gleich hinterher zu stoßen. Sie hatte viele Detektivgeschichten gelesen und wusste, wie wichtig es war, Zeugen zu beseitigen. Aber sie kannte die Regeln. Sie seufzte gereizt. »Dann soll sie dein Grimfutter sein. Hmph.«
»Schön!«, sagte die Hexenmutter vergnügt, als hätte ihr gerade jemand gesagt, dass das Essen fertig sei. »Damit wäre das erledigt. Kommt, Mädels. Zeit zu gehen.«
Das hatte Linda völlig vergessen: Der Grimfütterer musste bei der Fütterung des Grim allein gelassen werden. Einen Augenblick lang verlor sie die Beherrschung – ob man es glaubt oder nicht, Lucy gegenüber hatte sie sich die ganze Zeit wirklich ziemlich zusammengenommen. Sie stampfte mit dem Fuß auf und schrie:»Neiiiin!«
»Vorwärts, Linda«, befahl die Hexenmutter missbilligend. »Lass den Grimfütterer seine Arbeit tun.« Und dann in lautem Flüsterton: »Wir gehen nach oben und lauschen. Das ist viel lustiger. Und nicht so ... unappetitlich.«
Linda verkniff sich die Bemerkung, dass sie gerade den unappetitlichen Teil mochte und dass sie sich, seit sie Lucy aus dem Keller geholt hatte, auf genau diesen Teil gefreut hatte. Schmollend stieg sie hinter der Hexenmutter die Leiter hinauf. Allzu lange würde sie sich nicht mehr herumkommandieren lassen, dachte sie bei sich. Ganz und gar nicht mehr lange.
Wolfsjunge und Lucy beobachteten, wie die Dornenstiefel der Hexenmutter in dem Loch in der Decke verschwanden. Sie hörten, wie Linda die Hexenmutter, die Kniebeschwerden hatte, von der Leiter hob, und entnahmen dem anschließenden Geschlurfe, dass die Hexen sich versammelten, um der Fütterung zu lauschen.
Wie auf Bestellung ertönte aus dem Loch ein lautes Gurgeln. Drei Tentakel schlängelten über dem schwarzen Wasser und landeten mit einem dumpfen Knall auf dem Rand der Falltür. Lucy blitzte Wolfsjunge an. Sie blähte die Nüstern wie ein zorniges Pferd und warf den Kopf zurück. »Denk nicht einmal daran, Rattenjunge«, knurrte sie, »sonst wirst du da unten bei den Tentakeln landen.«
»Ich musste das sagen«, zischte Wolfsjunge, »sonst hätten sie dich hineingestoßen. So haben wir etwas Zeit gewonnen – Zeit, um zu überlegen, wie wir hier rauskommen.«
Wolfsjunge wusste, dass die Hexen oben darauf warteten, dass er Lucy an den Grim verfütterte, und dass sie nicht lange warten würden, wenn sie nichts hörten. Er konnte sich an zwei Fingern abzählen, was geschah, wenn sie herunterkamen und feststellten, dass Lucy noch in einem unverdauten Zustand war – sie würden beide als Grimfutter enden.
»Wir haben nicht viel Zeit«, flüsterte er. »Ich habe einen Plan, wie wir hier rauskommen, aber du musst tun, was ich dir sage. Einverstanden?«
»Tun, was du sagst? Wie komme ich dazu?«
Plötzlich hob sich der Fußboden, begann zu schwanken, und ein Schwall schmutzigen Wassers schwappte durch die Falltür. Der Grim war aufgetaucht.
»Ja«, zischte Lucy sogleich. »Ja. Ich tu, was du sagst. Ich verspreche es.«
»Gut. In Ordnung. Jetzt hör mir zu – du musst schreien. Kannst du das?«
Lucys Augen leuchteten auf. »Und ob ich schreien kann. Wie laut?«
»So laut du kannst.«
»Bist du sicher?«
Wolfsjunge nickte ungeduldig.
»Also gut, dann mal los. Aaaaaaaaaaaaaaaaaaagh! Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaagh! Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaagh!«
Der Grim zog sich hastig ins schmutzige Wasser zurück. Er war zwar ein Dunkelwesen, aber er führte in den Abwassern der städtischen Kanalisation, die unter der Vorderen Straße entlangführte und sich unter dem Haus des Porter Hexenzirkels zu behaglicher Größe verbreiterte, ein ruhiges Leben. Sein Gehör war an das leise Gurgeln und Gluckern der unterirdischen Rohre gewöhnt, nicht an die Schreie Lucy Gringes. Und so sank er zurück auf den schlammigen Backsteinboden der städtischen Kanalisation und stopfte sich die Spitzen seiner Tentakel in seine Gehörgänge, von denen er etliche hatte.
»Aaah! Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaah! Aah! Aaaaaaaaaaaaaaaaaagh!«
In der dunklen Küche der Hexen lauerten dreizehn Katzen. Bei den Katzen handelte es sich um einen Wurf blutsaugender Exemplare, die von der Besatzung eines einlaufenden Schiffs über Bord geworfen worden waren, nachdem sie – damals noch Kätzchen – über den Kabinensteward hergefallen waren und ihm alles Blut ausgesaugt hatten. Linda hatte sofort erkannt, was sie waren. Sie hatte sich den Kescher eines kleinen Jungen geschnappt, die Vampirkätzchen aus dem Treibgut im Hafen gefischt und triumphierend ins Haus des Zirkels gebracht, von wo aus sie seitdem Jagd auf Babys und kleine Kinder machten.
»Aaah! Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaah! Aah! Aaaaaaaaaaaaaaaaaagh!«
Von den verrottenden Müllhaufen aus beobachteten die Katzen, wie Wolfsjunge fieberhaft etwas suchte, womit er den Grim füttern konnte. Wolfsjunge spürte die Blicke von neunundzwanzig Augenpaaren auf seiner Haut, und in seinem wölfischen Zustand spürte er auch, woher sie kamen. In weniger als dreißig Sekunden hatte er zwei Katzen aufgespürt, die sich hinter einem riesigen Pilz unter dem Spülstein versteckten. Er stürzte sich auf sie.
»Miauooooooooooooooooooooooooooooooooooooooo!«
»Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaagh!«
Das Jaulen der Katzen ging völlig in Lucys Schrei unter.
Die strampelnden und kratzenden Biester am ausgestreckten Arm von sich weg haltend, rannte Wolfsjunge zur Falltür. Unter ihm schwappte das dunkle Wasser, aber von seinem Bewohner war nichts zu sehen. Der Grim spürte die Schwingungen von Lucys Schreien und ließ sich nicht nach oben locken – nicht einmal durch frisches Katzenfleisch.
Lucys Schreie erstarben. »Aaaa...aaa...äh...krächz!« Sie hustete und fasste sich an den Hals. Ich habe meine Stimme verloren, formte sie tonlos mit den Lippen.
In den Tiefen der städtischen Kanalisation verebbten die Vibrationen von Lucys Schreien. Der Grim zog die Tentakel aus seinen Gehörgängen – die ihm auch als Riechorgan dienten – und roch jetzt die Nahrung. Frischfleisch. Das ölige Wasser unter der Falltür geriet in Bewegung, und plötzlich durchbrach ein großer schwarz glänzender Kopf die Oberfläche. Wolfsjunge ließ die Katzen fallen.
Die Wirkung war eindrucksvoll.
Der Grimm warf sich auf den Rücken, und ein großer, weit aufgesperrter, sägeförmiger Schnabel kam zum Vorschein. Ein Wald von Tentakeln umschloss die schreienden Katzen, und ein widerlich saugendes Geräusch erfüllte die Küche, als der Grim daranging, seine erste Frischfleischmahlzeit seit beinahe fünfzig Jahren zu verspeisen. (Das letzte Fleisch hatte er von der jungen Tante Zelda bekommen. Der Zirkel hatte ihr eine Ziege angeboten, und sie hatte sie angenommen, dankbar, dass sie ihr nicht den Jungen von nebenan gegeben hatten, was sie bei ihrer Vorgängerin, Betty Crackle, getan hatten. Betty hatte das nie ganz verwunden und stets die Auskunft darüber verweigert, ob sie den Jungen akzeptiert hatte oder nicht. Tante Zelda fürchtete, dass sie akzeptiert hatte.)
Erregt von dem Frischfleisch, schob der Grim ein paar Tentakel durch die Falltür und suchte nach mehr. (Gelegentlich hatte er damit Erfolg. Nicht alle Künftigen Hüter kehrten von ihrer Aufgabe zurück.) Als die dicken Fangarme mit ihren mächtigen Saugnäpfen auf Wolfsjunge zukrochen, war sein erster Gedanke, die Falltürklappe zuzuschlagen und aus der Küche zu rennen – aber er hatte noch etwas zu erledigen. Er wappnete sich gegen die Dunkelkräfte, dann kniete er neben der Falltür nieder, zückte ein kleines silbernes Taschenmesser und schnitt zu Lucys Erstaunen mit einer schnellen Bewegung einem Tentakel die Spitze ab. Der Grim merkte es nicht. Er merkte ohnehin nicht mehr viel, denn infolge einer merkwürdigen Laune der Natur enthielt jeder Tentakel einen Teil des Grimgehirns. Und mit jedem erfolgreichen Besuch eines Künftigen Hüters wurde der Grim noch ein bisschen dümmer.
Das blutige und tropfende Stück Grimgehirn in der Hand, schlug Wolfsjunge triumphierend die Klappe der Falltür zu – und bereute es sogleich. Kaum war die Klappe klirrend auf den Metallrand gefallen, drang das unverwechselbare Quieksen Dorindas durch die Decke.
»Oooh, er hat es getan! Er hat sie an den Grim verfüttert!«
Im nächsten Augenblick erdröhnte die Decke unter Stiefelgepolter, und ein Gipsregen prasselte auf Lucy und Wolfsjunge nieder. Der Zirkel war im Anmarsch.